Richter, Dan 2018: Improvisationstheater. Die Grundlagen. Band 1 (von 12 geplanten Bänden, die bis Dezember 2021 angekündigt sind). Berlin: Theater der Zeit. 283 Seiten – Rezension
Nach einigen Abschnitten spürt der Leser, hier erzählt ein leidenschaftlicher und überaus sachkundiger Impro-Spieler von seinem Metier, der übervoll mit Erfahrungswissen und beseelt davon ist, seine Leser für Improtheater zu begeistern. Er wünscht sich in seinem Vorwort, dass sein Buch den Leser „inspiriert, Neues zu wagen, Ängste hinter sich zu lassen, sich dem Moment hinzugeben, die eigenen Fähigkeiten zu erweitern und dem Verstand und künstlerischen Instinkt zu vertrauen, so dass Improvisationstheater das werden kann, was in ihm schlummert: Eine Kunst.“ (5)
Inhalt
Das Inhaltsverzeichnis mag dem bereits sehr Sachkundigen gewisse Hinweise geben, was er zu erwarten hat, einem Neuling (den spricht ja Richter offensichtlich in erster Linie an) wird es nur schwerlich die Orientierung im Buch erleichtern, wenn er eine eher suboptimal strukturierte Liste mit Schlagwörtern vorgesetzt bekommt. Ein professionelles Lektorat hätte hier möglicherweise helfen können. Dazu später mehr.
Nach 100 Seiten Lektüre hat man als sachkundiger Leser bereits deutliche Ermüdungserscheinungen, obwohl der Schreibstil nett zu lesen ist. Aber eine tendezielle Geschwätzigkeit (vermutlich aus der Überfülle der Erfahrungen) bremst doch mehr und mehr den Lesefluss, zumal diese nicht immer einen klar strukturierten Gedankengang unterstützt. Es seien hier nur einige Schwächen angedeutet. Richter benutzt in seinem Grundlagenwerk zentrale Fachtermini des Improtheaters, ohne diese gleich genau zu erläutern und deren Funktion zu beschreiben, z.B. Klischees (85), Kauderwelsch (96). Der zentrale Topos „Status“ wird erst auf Seite 60 kurz angesprochen, etwas genauer ca. 100 Seiten später. Im Theater eingeführte Begriffe wie „Präsenz“ werden nicht benutzt usw. Überdies bedient Richter den Theaterpädagogen-Fetisch: Um Gottes willen nicht bewerten! (70) Wobei doch das ständige Bewerten – Menschen tun es notwendigerweise den ganzen Tag über bei Dingen, die nicht automatisiert ablaufen (weil diese schon zuvor bewertet wurden) – einer Situation überhaupt erst richtige/ zweckmäßige/ angemessene/ notwendige/ hilfreiche Entscheidungen zu treffen ermöglicht. Und erst das geliebte Theaterpädagogen-Dogma: Es gibt kein Richtig und kein Falsch! Es gibt nichts Perfektes! Um dann aber zu schwelgen in Beschreibungen gelungener(!) Improvisationen. Wieso sind die gelungen? Vielleicht weil gerade etwas richtig gemacht wurde? Wieso sollte man lernen und üben (72), wo doch alles so schön ist, wie es ist, und jeder das macht, was er kann? Aber: „… es bedarf nur wenig Übung“ (97). Begriffliches Herumgeeiere ist da wenig hilfreich. Beispiele: „in der Szene herumwurschtelt, wirkt sie kompliziert, gewollt, konstruiert und unelegant“ (53), Eleganz (57), nonchalant (58), organischer, schöner, passender (88), „Wunderbar-Unperfektes“, „perfekte[…] Eleganz“ (100). Dan Richter hält das nicht davon ab, klare dramaturgische Anweisungen zu geben, wie es richtig zu machen ist: „Setze den Protagonisten am Ende möglichst verändert an die gleiche Stelle, von der er am Anfang gestartet ist, und schon wirkt eure Improgeschichte beinahe genial.“ Genial?! Richters Fazit und Anweisung für den Improspieler: „Deine Aufgabe auf der Bühne ist es nicht, deine Mitspieler zu bewerten, sondern aus ihren seltsamen Angeboten eine großartige Szene zu machen.“ (50) Wie bewertet Richter eine Szene, um sie als „großartig“, „genial“ zu beurteilen? Überdies bekennt er freimütig, dass er seine Schüler auch „bedingungslos“ lobt. (98/99) Wofür tut er das, da das Bewerten des Teufels ist? Lob gibt es doch nur dafür, wenn jemand etwas gut (also richtig!) gemacht hat, sich angestrengt hat, sich Mühe gegeben hat, mutig war, über seinen Schatten gesprungen ist, also Leistung gebracht hat, die dann auch entsprechend differenziert bewertet und beurteilt werden muss, damit der Gelobte weiß, wofür er das Lob erhalten hat und damit er eine Richtschnur und Kriterien(!) für die weitere Entwicklung hat. In Bezug auf die grundlegende Bedeutung von insbesondere sehr frühzeitigen Bewertungen in Gruppen zum Aufbau eines Selbstwertgefühls und einer Ich-Akzeptanz hätte sich Richter besser vorab nochmal schlaugemacht, z.B. bei Klein 2017: 12-13
Andererseits werden grundlegend bedeutsame Merkmale des Improtheaters in Fußnoten verbannt: „Es geht immer um die Beziehung zwischen den Personen oder den inneren Konflikten der Protagonisten.“ (96: Fußnote 41)
Was in besonderer Weise den Leser nervt, sind die ständigen Begründungs- und Vertiefungsverweise auf bestimmte Kapitel in den noch nicht geschriebenen/ veröffentlichten 11 Folgebänden.
Deutliche Schwächen zeigt das Buch in der Struktur und Logik des Aufbaus. Das Phänomen ist hinreichend bekannt, wenn Menschen leidenschaftlich-emotional für eine Sache brennen und diese praktizieren, dass ihnen dann zuweilen die Distanz fehlt, ihren Stoff mit klarer Verstandesschärfe analytisch aufzubereiten und sie vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. In solchen Fällen hilft aus Erfahrung ein professionelles kritisches Lektorat, das die richtigen Fragen an den Autor stellt eine ordentliche Struktur in den Stoff bringt und auch mal die Ansage macht: Kill Your Darling! Ein solches Lektorat hätte dem Buch gut getan und dem Leser viele Längen und Unklarheiten ersparen können, auch wenn so manche Anekdote aus Richters Improleben ganz amüsant ist und Beschreibungen aus seiner praktischen Improarbeit mit Schülern und Mitspielern die Merkmale des Improtheaters recht anschaulich illustrieren. Die Beispiele und auch entsprechende immer wieder eingeschobene Übungen um bestimmte Kompetenzen der Spieler zu trainieren und ihre „eigenen Fähigkeiten zu erweitern“ (5) sind durchaus treffend gewählt und bezeugen die umfassende Praxiserfahrung Richters. Denn ohne Üben geht nix. Wir sprechen hier nicht über herausgehobene Talente mit „künstlerischem Instinkt“.
Ein klarer strukturiertes Buch ohne überflüssige Längen hat z.B. Marianne Miami Andersen zum Improtheater bereits 1998 geschrieben, auf das Richter, vielleicht aus gutem Grund, leider nicht verweist.
Nach der Lektüre des ersten Bandes, der zweifellos äußerst umfassend und im Detail auch sehr feinfühlig das Sujet Improtheater aufblättert, stellt sich die Frage, ob nicht weniger mehr wäre. Zu befürchten ist, dass in den angekündigten 12 Bänden, das Thema möglicherweise totgeschrieben wird. Versucht sich hier vielleicht jemand zu Lebzeiten schon ein Denkmal zu setzen? Ich jedenfalls werde nicht auf noch weiteren 11 Bände warten und empfehle dem interessierten Leser, der jetzt von Richters erstem Band inspiriert wurde, dann doch eher auf das Original von Johnstone zurückzugreifen. Er hat hier einen Standard gesetzt, der von seinen noch so leidenschaftlichen Epigonen vermutlich nicht getoppt werden kann. Letztlich geht es um Praxis, um das Tun, um Erfahrungen machen. Ob dazu 12 Bände mit vermuteten mehreren tausend Seiten notwendig sind, darf man wohl bezweifeln. Sicherlich wäre die Zeit, die man für das Lesen bräuchte, sinnvoller genutzt, wenn man stattdessen in der Gruppe übte. Denn so kompliziert ist Improtheater nun wirklich nicht, dass man es auf mehreren tausend Seiten erläutern müsste. Wie gesagt, besser gleich das Original lesen (auf das Richter auch immer wieder verweist), vielleicht eine Übungssammlung dazu und wer genau wissen will, wie man einen Impro-Kurs bzw. eine Impro-Gruppe aufbaut und sich an einem ausgearbeiten über viele Jahre erprobten Muster orientieren will, dem sei zu Johnstone und einer Übungssammlung noch das „Kursbuch Impro-Theater“ empfohlen, das auf ca. 100 Seiten die wesentlichen Merkmale des Improtheaters in eine Kursbeschreibung mit ausgearbeitetem Ablauf mit ca. achtzehn Doppelstunden transformiert.
Weiterführendes
- Andersen, Marianne Miami 1998: Improtheater und Theatersport. Planegg: Impuls-Theater-Verlag
- Johnstone, Keith 2010: Improvisation und Theater. Berlin: Alexander Verlag
- Johnstone, Keith 2010: Theaterspiele: Spontaneität, Improvisation und Theatersport. Berlin: Alexander Verlag
- Hawemann, Horst 2014: Leben üben. Improvisationen und Notate. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Klein, Irene 2017: Gruppen leiten ohne Angst. Themenzentrierte Interaktion (TZI) zum Leiten von Gruppen und Teams. Augsburg: Auer Verlag > Rezension
- List, Volker 2012: Kursbuch Impro-Theater. Stuttgart: Klett Verlag
- Vlcek, Radim 2016: Workshop Improvisationstheater: Übungs- und Spielesammlung für Theaterarbeit, Ausdrucksfindung und Gruppendynamik. Augsburg: Auer Verlag
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