Gütter, Genia 2012: Praktische Theaterarbeit am Gymnasium. Grundlagen – Inszenierungskonzepte – Texte. 84 Seiten – Rezension
Gütter ist Lehrerin und Fachbereichsleiterin für das Unterrichtsfach Darstellendes Spiel an der Westerwaldschule und gibt dem Leser Einblicke in ihre Suche nach ihrer Rolle und Aufgabe als Theater-Lehrkraft. Dabei offenbart sie grundlegende Herausforderungen dieser Tätigkeit und ihre Versuche, diese zu bewältigen. Es zeigen sich dabei Unklarheiten und Widersprüche in den Beschreibungen ihrer Arbeitsweise, aber auch einige deutliche Hinweise auf Erkenntnisse und Lernfortschritte aus Fehlschlägen.
Inhalt
- Vorwort 4
- Theater ist Theater 5
- Das Dilemma der Kritik 8
Exkurs: Theater als Definitionsproblem 9
Schultheater und Kritik 14
Prozesskommentierende Formen der Kritik 15
Der dialogische Prozess 18
Prozessorientierte Kritik 19 - Der kindliche und jugendliche Darsteller 21
Eine Reise ins Ich und die Instrumentalisierung der Erfahrung 21
Rollenwechsel, Selbsterfahrung, Gemeinschaft und Werkbezug 22
Eine nicht ganz ernst gemeinte Typologie 24
Und die Spielleiter? 30
Textvorlagen in der Bearbeitung 335 - Darstellendes Spiel im Unterricht 35
Beispiel: Die Rede der Satzzeichen 35 - Making of … Zwei Theaterprojekte 38
Projekt 1: Die drei Muske(l)tiere 38
Die Gruppe 38
Die Themenfindung 38
Die Gruppe wird spielfähig 40
Schüler auf der Bühne – eine Premiere 41
Ein Stück entsteht 44
Theatertext: Die drei Muske(l)tiere 47
Die Aufführung 61
Nachgang 63
Projekt 2: Twenty-Eighty-Four 64
Die Gruppe 64
Das Werden einer Geschichte 66
Theatertext: Twenty-Eighty-Four 68
- Literaturliste 83
Gütter will mit ihrem Beitrag ein „’Regiebuch’ für erfolgversprechende Theaterarbeit, das sowohl theoretisches Hintergrundwissen (aus Praxissicht!) als auch die praktische Umsetzung im Unterrichtsalltag vermittelt“, vorlegen. „Das betrifft die passende Stückeauswahl und -bearbeitung und die Schulung der schauspielerischen Fähigkeiten der Schüler. Auch die Regiearbeit und Realisation eines Stückes auf der Schulbühne werden ausführlich thematisisert.“ (Klappentext U4)
Die Autorin erzählt von ihren eigenen Erfahrungen mit naturalistischem Rollenspiel in der Schule und wie stark sie diese Erfahrung geprägt habe. Sie berichtet von „Metamorphosen“ ihrer Theaterschüler, die einen Zugang in ihrem Unterricht zum Theater gefunden hätten, der lebenslang wirke. Sie beklagt sich umfassend über die an ihrer Arbeit als Theater-Lehrkraft geübte Kritik von allen Seiten.
Die Autorin verstrickt sich bei ihren Beschreibungen aber in Widersprüche, da sie nicht differenziert zwischen dem Sammelbegriff „Schultheater“, der alles Mögliche meint, und Theater als regulärem Unterricht und freiwilligen Arbeitsgemeinschaften. Sie unterscheidet nicht angemessen zwischen dem, was Theater zu einer Kunstform macht (es liege in der Natur der Sache, „öffentlich zu sein.“ (19)) und schulischem Lernen im Format des Unterrichts eines Nebenfaches mit zumeist nur zwei Wochenstunden bzw. einer Theater-AG. Gütter wird ständig mit diesem Widerspruch konfrontiert, ohne ihn aufzulösen. Sie geht aber durchaus einige Schritte in die richtige Richtung. Im Einzelnen: Gütter besteht auf einer öffentlichen Aufführung (21) der Unterrichtsergebnisse mit entsprechender Wirkung im regionalen Raum und versucht es allen Interessengruppen, die Schultheater funktionalisieren wollen, recht zu machen, statt sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren: Theater-Unterricht mit seinen unabdingbaren Forderungen zu gestalten.
„Der praxisorientierte Leitfaden für das Fach Darstellendes Spiel!“, wie es der Hinweis auf der Persen-Website propagiert, ist Gütters Beitrag nur bedingt. Sie stellt durchaus die richtigen Fragen (20) und beschreibt treffend, was Darstellendes Spiel als kulturelle Bildung leisten kann (24). Offensichtlich leidet sie aber unter allzu viel Kritik aus allen möglichen Richtungen, weil sie nicht klar professionelles und sog. Schultheater auf der einen und Theater-Unterricht als zwei- oder dreistündiges Wahlpflicht- oder Kursfach in der Schule gegeneinander abgrenzt. Diese begriffliche Unklarheit führt zwangsläufig zu der von ihr beschriebenen Zwangslange: Kreuzfeuer der Kritik von allen Seiten. Sie definiert nicht klar und deutlich, welche Ziele Theater-Unterricht hat. Sie folgt stattdessen i.W. einem tradierten professionellen Vorbild im Stile des psychorealistischen Figurenspiels auf der Basis umfangreicher Rollentexte. Auch wenn sie Schüler eigene Texte sprechen lässt, bleibt es am Ende Dramentheater als Nachahmung des großen professionellen Theaters und damit unangemessen für kompetenzorientierten Theater-Unterricht, der seine Legitimation aus Curricula bezieht und folglich grundlegend andere Ziele verfolgt. Als Fachbereichsleiterin Darstellendes Spiel sollte ihr das bewusst sein. Der Leser erfährt leider nicht, welchen didaktischen Überlegungen sie folgt und wie sie ihre Schüler in ihrem Unterricht zu einem entsprechenden überprüfbaren und benoteten Kompetenzerwerb führt. Es fehlen grundlegende didaktisch angemessene Überlegungen. Dies wird auch an dem spärlich-peinlichen Literaturverzeichnis deutlich, das mit der „Bibel“ beginnt!
Gütter schlägt als ein Beispiel für ihr Verständnis für „Darstellendes Spiel im Unterricht“ („meiner aktuellen Produktionen“[!] 38) vor, ein fertiges Stück nach einer genauen Textvorlage einzustudieren und zu inszenieren. (36) Gleichwohl lehnt sie es ab, fertige Stücke zu inszenieren, weil sie nie für eine Gruppe passten, sei es von der Anzahl der Rollen, vom Thema, der Sprache usw. und fordert ein Mitspracherecht der Schüler im Entscheidungsprozess bei der Auswahl und Gestaltung, weil das den „Werkbezug der Schüler“ stärke. Überdies plädiert sie dafür, dass „sich die Schüler einer anderen literarischen Gattung als Ausgangspunkt bedienen“ sollten. (34, 38). Ausgangspunkt für ihre Produktionen (nicht Theater-Unterricht) sind folgerichtig analog einer Herangehensweise im Deutsch-Unterricht immer Charakterbeschreibungen der literarischen Figuren und die erzählte Geschichte, wobei sie sich im ersten Schritt diesen Rollenbeschreibungen nähert. Das Erlernen theatral-ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten nimmt sie so gut wie gar nicht in den Fokus, das was Theater und Theater-Unterricht grundlegend ausmacht.
Auch bleiben ihre Stigmatisierungen von Schülern, die sie klischeehaften „Typen“ (30-33) zuordnet, rätselhaft. Was soll eine Lehrkraft mit Bezeichnungen wie „der Abgeklärte“ (31), „der Neuling“ (31), „der Autoritäre“ (31), „der Liberale“ (31), „der Mitbringer“ (31) usw. anfangen? Diese vorurteilsvollen nicht unvoreingenommenen Etikettierungen und damit Verstärkungen – wie das in ähnlich schlimmer Weise auch andere Lehrkräfte und Theater-Pädagogen tun, z.B. Osberg/ Schütte – erleichtern vermutlich nicht die andernorts gemachte Forderungen nach „Metamorphose“.
Die häufig vorgetragene Kritik, dass zu wenig Zeit zur Verfügung stünde, führt leider nicht zur Einsicht, etwas im unterrichtlichen Rahmen zu machen, was in der vorgegebenen Zeit auch gut machbar ist. Statt dessen hält Gütter weiter fest an einem diffusen Dogma, einen professionellen Theaterspielbetrieb mit Amateuren, mit Schülern in einem relativ festgefügten Bildungsformat, zu kopieren. Dies führt immer wieder zu offensichtlichen Widersprüchen zwischen Anspruch und Realisierungsmöglichkeiten und entsprechenden sich wiedersprechenden Postulaten wie beispielsweise in Bezug auf die sekundären theatralen Mittel.
So fordert Gütter einerseits: „Im Theater muss jeder alles machen können. Ganz richtig ist der Ansatz schon im Hinblick auf den fachspezifischen Anspruch. Alle Schüler, die sich mit einer Produktion befassen, sollen um Licht, Kostüm, Ausstattung, Maske usw. wissen, deren Möglichkeiten, Begrenzungen, Inhalte und Begrenzungen erfahren.“ Andererseits hält sie externe Hilfe z.B. beim Zimmern von Bühnenelementen, bei der Ausleihe historischer Kostüme aus professionellem Bestand bzw. beim „Schneidern von Kostümen (bei aller Kargheit der Schulbühne ist das doch manchmal nötig[!])“ (65), wobei sie diese Arbeit umfassend selbst übernimmt (61) und eine große Rolle in „ihren Produktionen“ zu spielen scheint. Wichtig in ihrer zweiseitigen Beschreibung einer Aufführung einer „ihrer Produktionen“, in der es eine Seite lang um ihre Kostümproduktion geht, sind die „Pressemappe“ für die regionale Presse, die reservierten Plätze für die „lokalen und sonstigen VIP’s“ und insgesamt ein wirkungsvolles Marketing im regionalen Raum bezogen auf den „Rektor“ der Schule, die „Eltern, Verwandte und Freunde“. (62) Was Schüler gelernt haben oder lernen sollten ist in einem Satz und mit einem Verweis auf die Handreichungen des Hessischen Kultusministers zum Darstellenden Spiel abgehandelt. (63-64) Wie sie theatral-ästhetische Gestaltungen mit den Schüler trainiert hat, auf welche Weise sie dann mit ihren Schülern diese erworbene Kompetenz bei „ihren Produktionen“ angewendet hat und in welcher Weise sie ihrer schulischen Verpflichtung nachgekommen ist, die Leistungen der Schüler in „ihren Produktionen“ zu benoten, das bleibt leider weitgehend im Dunkeln.
Wesentliche Herausforderungen von Unterricht im Fach Theater/ Darstellendes Spiel werden in diesem eher der Selbstdarstellung dienenden Bändchen auch nicht beleuchtet. Über die Hälfte des 83 Seiten umfassenden Bändchens sind gefüllt mit Rollenskripten ihrer Produktionen. Insofern gibt es hier keine bedeutsame Antwort auf die Frage, wie Theater nach einer zeitgemäßen Didaktik in der Schule unterrichtet werden kann. Wer Anregungen für einen erfolgreichen Theaterunterricht sucht, der sollte sich diese z.B. bei Reets, Klein, Weidemann, Czerny holen und sich von den Lehrmaterialien von AT inspirieren lassen. En Passant: Die Schreibweise von Brechts Vornamen: nicht „Berthold“ (11) sondern gebräuchlich Bertolt. Der Roman von Orwell heißt 1984, nicht „2084“ (dreimal falsch geschrieben!). Ob hier ein einfaches Korrekturlesen fehlte?
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