Hoppe, Hans Joachim/ Jünger, Jürgen/ Esche, Tilo 2017: Wie Unternehmen von Theater profitieren können. Führung spielend lernen. Wiesbaden: Springer Gabler Verlag. 44 Seiten – Rezension
Das zurzeit klügste Buch zum „Unternehmenstheater“.
Aus meiner Erfahrung als praktizierender Theater-Pädagoge bzw. -Lehrkraft mit 20-jähriger Businesserfahrung als Unternehmensberater vom Coachen über Führungskräfte-Trainings bis hin zur Unternehmenssteuerung durch Großgruppen mit Hilfe theatralen Designs und szenischen Interventionen kann ich zu diesem essential vorweg folgendes sagen: Hier haben sich „ein Wissenschaftler und Coach, ein Regisseur und ein Manager“ (VIII) zu einem Buchprojekt verabredet und zeigen, welche Synergien möglich sind, will man ein solch komplexes Thema wie dieses tiefgründig und nicht logorhoetisch, begrifflich präzise und nicht schändlich verkürzend, aus den notwendig unterschiedlichen Perspektiven zum Nutzen einer bestimmten Zielgruppe beleuchten. Bravo!
Dieses essential sei jedem Theaterschaffenden wärmstens an Herz gelegt, der sich mit dem Gedanken trägt, gewerblichen Unternehmen, Organisationen und anderen Gemeinschaften seine theatrale Kompetenz anzubieten zum Zwecke der Optimierung von Prozessabläufen bzw. besseren Zielerfüllung oder auch Maximierung von Gewinnen bei gleichzeitiger Steigerung des Wohlbefindens und der Verbesserung der Gesundheit der schaffenden Arbeiter, Angestellten und ihrer Führungskräfte.
Das Versprechen, das mit dem Format essentials dieser Buchreihe im Vorspann gegeben wird, wird hier eingelöst: „essentials liefern aktuelles Wissen in konzentrierter Form. Die Essenz dessen, worauf es als ‚State-of-the-Art‘ in der gegenwärtigen Fachdiskussion oder in der Praxis ankommt. essentials informieren schnell, unkompliziert und verständlich
- als Einführung in ein aktuelles Thema aus Ihrem Fachgebiet
- als Einstieg in ein für Sie noch unbekanntes Themenfeld
- als Einblick, um zum Thema mitreden zu können.“ (II)
und was man in diesem Band finden kann:
- „Was Unternehmen von Theater lernen können
- Eine Kritik des Unternehmenstheaters
- Ein neues Konzept von Unternehmenstheater
- Spielerisches Lernen von Führung
- Wie Führung (wieder) Spaß machen kann“ (V)
Die Autoren streben keinen theaterwissenschaftlichen Ansatz an (VIII), und das ist auch gut so, gibt es doch bereits viel zu viele geschwätzige Machwerke aus den Zentren der universitären Theaterwissenschaft, deren „Erkenntnisleistung“ sich darin erschöpft, zum x-ten Male bereits bekannte Positionen von KollegInnen fleißig nochmals zu wiederholen und sie theoretizistisch in neue Wortgewölle zu verpacken und zu glauben, dies könnten Hilfen sein und Orientierung geben für die, die da unten in den Niederungen der Praxis die eigentlich bedeutsame Arbeit verrichten. Mitnichten.
„Sie wollen vielmehr von der pragmatischen Ebene einen Blick von außen einnehmen und eine neue Form von Führungstraining vorstellen. Wie Improvisation und Führung zusammengehen können, wollen die Autoren hier nur ansatzweise beschreiben und dem Leser lieber Lust machen, sich selbst auszuprobieren.“ (VIII-IX)
Die übersichtliche Gliederung des Buches mit drei Hauptkapiteln und je drei Unterkapiteln zeigt bereits deutlich, dass hier Autoren mit analytischem Blick am Werk waren, die Komplexität mit didaktischem Gespür handhabbar strukturieren können.
Inhalt
1 Unternehmen und Theater 1
1.1 Was Unternehmen von Theater lernen können 1
1.2 Unternehmenstheater – ein kritischer Blick 6
1.3 Improvisationstheater 10
2 Führung und Improvisation 15
2.1 Das Potenzial von Improvisation 15
2.2 Führung als Improvisation 17
2.3 Regeln der Improvisation und Führungspraxis 23
3 Unternehmenstheater als Improvisationstheater 33
3.1 Ein „Neues Unternehmenstheater“? 33
3.2 Vom Event zum Prozess 35
3.3 Führende lernen Improvisieren 37
Epilog 41
Weiterführende Literatur 43
Die Autoren gehen im ersten Kapitel der Frage nach, worin die aktuellen Herausforderungen für Wirtschaftsunternehmen bestehen. Sie stellen fest, dass aufgrund beschleunigter Veränderungszyklen und der Notwendigkeit immer schneller bedeutende Entscheidungen treffen zu müssen, kaum noch eine Führungskraft ohne Improvisations-Kompetenz auskommt.
Sie isolieren in ihrer Analyse „drei folgenreiche Phänomene“: erstens Komplexität, zweitens Organisation im Wandel, drittens Organisation als Organismus und untersuchen diese auf ihre Wirkungen bezüglich „Planung, Zielbestimmung, Strategie, Strukturbildung, Standardisierung, Regeln, Kontrolle“. (2)
Die beschleunigte Destabilisierung durch Innovationsdruck führt zur Verabschiedung von einem Modell einer „idealen“ Organisation, die langfristig Stabilität garantiert. „Strukturen, Standards und Regeln sind nicht länger idealtypischer Rahmen für unternehmerische Aktivitäten, sondern ‚Material‘ situationsgerechter Gestaltung.“ (3)
Unternehmen seien eher als Organismen zu denken, die sich nicht in Elemente zerlegen ließen. „Wir beginnen zu verstehen, dass wir also nicht an den Elementen arbeiten müssen, sondern an den Beziehungen. Und das heißt letztlich, an der Kommunikation. Kommunikation ist ein weicher Faktor mit harten Konsequenzen. An die Stelle des Managers tritt der professionelle Mitarbeiter, und an die Stelle von Steuerung und Kontrolle die Selbststeuerung und Selbstkontrolle der Mitarbeiter als intelligente Organe eines intelligenten Organismus.“ (3) Nach wie vor sei Führung aber notwendig, denn Unternehmen „brauchen Entscheidungen, Koordination, Sinn und Zukunft.“ (3) Und die Arbeit von Führung bestehe zunehmend darin die Wirkkräfte von Stabilität und Instabilität auszubalancieren. Insofern brauche es neue Regeln. „Regeln, die ihnen gestatten, auf Unerwartetes und Unvorhersehbares schnell und angemessen zu reagieren – unter anderem Regeln der Improvisation.“ (3)
Theater könne mindestens drei Brücken für das Lernen von und in Unternehmen anbieten: Mit Brecht könne das Theater den Zustand der Welt als veränderbar zeigen. Dabei helfe die sichtbare Unterscheidung zwischen der Rolle und dem Rollenträger, zwischen dem Schauspieler und seiner dargestellten Figur und der gezeigten Verhandlung der Themen zwischen beiden. Der Schauspieler reflektiert öffentlich sichtbar die von ihm dargestellte Figur und erprobt Handlungsalternativen für diese. Er ist Beobachter erster Ordnung. Der Zuschauer wird zum Beobachter zweiter Ordnung, indem er den Beobachter erster Ordnung beim Beobachten beobachtet „und sieht, was dieser sieht, aber auch sieht, was dieser nicht sieht“. (4) Er wird zum Supervisor, denn „Supervision erweitert
- erstens den Horizont von Wahrnehmung durch das Einblenden ausgeblendeter Wahrnehmungen,
- zweitens die Zuschreibung von Bedeutungen für das Wahrgenommene und damit das Verständnis von Sinn und
- drittens die Möglichkeiten des Handelns, den Spielraum von Handlung im ebenso gemeinten Sinn, sodass der Betroffene angeregt ist, mit verschiedenen Möglichkeiten des Handelns zu ‚spielen‘.“ (4)
Der supervisorische Blick von Theater könne demnach Veränderungen in Unternehmen initiieren und diesen einen erweiterten Horizont von Möglichkeiten eröffnen.
Eine zweite Brücke fuße auf dem Performativitätskonzept, so das Autorenteam. Theater erzähle nicht nur von Wirklichkeit, es erzeuge auch Wirklichkeit. Auf der Bühne entstehe eine zweite Welt. Performativität hieße in diesem Kontext, dass Theater Veränderungen in Unternehmen bewirke.
Die dritte Brücke liege in der Metapher Theater, denn das Leben könne als Gegenstand von Inszenierung gedacht werden. Dies gestatte, nochmals andere, lebenspraktische Fragen stellen zu können:
- „In welchem Stück spiele ich überhaupt?
- Welche Rolle(n) nehme ich in diesem Stück ein?
- Kommen die Rollen eher auf mich zu oder sind sie gewählt?
- Welche Rolle könnte ich auch einnehmen?
- Auf welcher Bühne spielt das Stück?
- Gehört es vielleicht auf eine andere? Auf die Nebenbühne oder auf die Probebühne?
- Welche Themen werden da behandelt?
- Welches Thema passt am besten zu mir? Welche Themen sind mir wichtig?
- Sind die wichtigen Themen auch wirklich wichtig? Könnte es spannendere Themen geben? Oder bewegendere? Oder erfolgreichere?
- Und in welchem Inszenierungsstil wird das Stück meines Lebens gespielt? Als Tragödie? Als Lehrstück? Kann ich es auch neu erzählen, als Komödie vielleicht?“ (5)
Im folgenden Kapitel „1.2 Unternehmenstheater – ein kritischer Blick“ kritisiert das Autorenteam, dass sich Unternehmenstheater als „bedarfsorientiertes Theater“ häufig bereitwillig Unternehmensabsichten unterordnet und zur bloßen Unterhaltung verkommt „gemäß dem römischen Herrschaftsritual ‚Brot und Spiele‘.“ (6) Mit dieser Anbiederung würden die Chancen des Unternehmenstheaters vertan. Die Ursache dafür liege darin, „dass die Unternehmen oftmals ihre Interessen zu wenig kennen, geschweige denn formulieren könnten. Dadurch „verkomme Unternehmenstheater nicht selten zur bloßen Illustration von Managementzwecken.“ (6)
Im Folgenden fächern die Autoren die verschiedenen Formen und Ausprägungen des Unternehmenstheaters auf in:
„Einfache Formate“ (6). Diese einfachste Form habe lediglich flüchtigen Eventcharakter. Führungskräfte würden zudem kaum angesprochen bzw. involviert und die Prozessbegleitung fehle. Kosten und Aufwand stünden meist in keinem Verhältnis zum Ergebnis. „‘Bedarfsorientierte Inszenierungen‘ gehen am Wesen von Unternehmenstheater vorbei und lassen das Potenzial nicht zur Entfaltung kommen.“ (13)
„Qualifizierte Formate“ (7). Hierbei werden Führungskräfte und Mitarbeiter in systemischer Weise zu Mitwirkenden bei der Theaterarbeit und ich möchte ergänzen: zu Mitwirkenden bei konkreten Inszenierungen auch als Dramaturgen, Regisseure, Darsteller usw. und selbstverständlich bei der Aufführung z.B. bei Kick-offs für Change-Prozesse (vgl. z.B. List u.a. 2008: Großgruppenverfahren: 1999-259; Praxisbeispiele) .
„Trainingsorientierte Formate“. In Workshops werden „spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Wahrnehmung, der Kommunikation, des Umgangs mit Status und Rolle, der Kreativität“ usw. trainiert. (7)
Gleichgültig, welches Format ein externer Anbieter einem Unternehmen schmackhaft machen möchte, „um den Auftrag zu verstehen und erfolgreich auszuführen, muss sich Unternehmenstheater in die Unternehmensprozesse hineindenken. Für das Schreiben eines Drehbuchs, das allen Seiten gerecht wird, benötigt der Regisseur einen „Dolmetscher“, der ihm die Erwartungshaltung in seine Sprache übersetzt, und einen „Fachmann“, der die aktuellen Diskussionen der Wirtschaftstheoretiker dazu kennt.“ (9) … wenn man schon nicht alle diese Kompetenzen in einer Person vereinigen kann.
Das wirft die Frage nach der Qualifikation der zahlreichen Unternehmen auf, die Unternehmenstheater anbieten. Diese erschöpft sich zumeist in gewissen theatralen Kompetenzen als Schauspieler und/ oder als Theaterpädagoge. Sehr selten verfügen Unternehmenstheater-Anbieter über betriebswirtschaftliche und betriebspsychologische Kenntnisse und Kompetenzen, geschweige überhaupt fundiertes und reflektiertes Erfahrungswissen aus unmittelbarer Arbeit in Unternehmen in direktem Kontakt mit Mitarbeitern und Führungskräften.
Im Kapitel „1.3 Improvisationstheater“ versuchen die Autoren die Fragen zu beantworten: „Was heißt, was ist, was will Improvisationstheater?“ (10) und zeichnen historische Entwicklungslinien der Impulsgeber nach. Neben der commedia dell’arte und Jewgeni Wachtangow, der sich ab 1918 erste konzeptionelle Gedanken machte, erhielt das Impro-Theater weitere Anregungen durch Jacob Moreno, Viola Spolin und Keith Johnstone.
Im zweiten Hauptkapitel „Führung und Improvisation“ ermitteln die Autoren in „2.1 Das Potenzial von Improvisation“ in vier Merkmalen:
- Improvisation ist kein Zustand, sondern Prozess.
- Improvisation ist sofortige Reaktion auf unerwartete Ereignisse.
- Improvisation erfolgt ohne Vorbereitung, aber nicht plan- oder regellos.
- Improvisation ist kreatives Spiel mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten.
Anhand von fünf zentralen Phänomenen von Improvisation versuchen die Autoren zu erläutern, welche Qualitäten für Unternehmen interessant sein und woraus sie Nutzen ziehen könnten: Kreativität, Spontaneität, Muster, Risiko und Kollaboration. (16-17)
Im Kapitel „2.2 Führung als Improvisation“ steht ein grundsätzlicher Widerspruch im Fokus der Betrachtung: Wie lassen sich notwendige Planung in Wirtschaftsunternehmen vereinbaren mit improvisierendem Vorgehen? Aber: „Führungskräfte haben heute zunehmend das Gefühl, genau in diesem Widerspruch, also am Rande des Chaos agieren zu müssen.“ (17) Führung ist nicht auf Improvisation zu reduzieren, „wohl aber, dass Improvisation ein wesentlicher Charakter von Führung der Zukunft“ sein oder werden könnte. (18) Die Autoren verweisen auf die besonderen Lerneffekte, die sich aus dem Improvisationstheater für die Professionalisierung von Führung ergäben. Führung als Improvisation
- konstruiere Wirklichkeiten,
- entscheide situativ,
- interveniere systemisch in das Denken und Handeln der Mitarbeiter und
- hebe sich selbst auf, jedenfalls als exklusive Tätigkeit exklusiver Personen in exklusiven Positionen. (18)
Der moderne Führer, so das Autorenteam, ist eher Künstler als Manager, aber die Kompetenzen fußten in beiden Fällen auf solidem Handwerk. „Der Manager als Handwerker beherrscht sein Handwerk und sein Handwerkszeug, um ein vordefiniertes Produkt in hoher Perfektion zu erzeugen. Auch der Künstler muss sein ‚Handwerk‘ beherrschen. Aber sein Handwerkszeug ist nur Material, das er nicht regelbestimmt, sondern variabel – eben improvisatorisch – benutzt, um ein ‚Produkt‘ zu erzeugen, über das er am Beginn des künstlerischen Prozesses noch nichts weiß.“ (18) Kunst bezeichne demnach eine Tätigkeit, „die auf Wissen, Beobachtung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. Kunst ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses.“ (18) Zur Kunst von Führung gehöre demnach die Fähigkeit, das sich Ausschließende zu balancieren. In diesem Sinne ist eine Führungskraft auch als Designer zu verstehen, der Wirklichkeit konstruiere (vgl. Borries 2016: Weltentwerfen). Die Autoren heben den idealistischen Charakter „zielbestimmter Planung“ hervor: Verstünde man unter Ziel einen Zustand in der Zukunft, der als zu erreichender Zielpunkt gedacht sei, und unter Plan eine Schrittfolge, die die Zielrealisierung erzwänge, dann befände man sich in einer Märchenwelt, fernab der Realität. (19) Und sie begründen diese Einschätzung mit sechs Bedingungen:
„Erstens müssen Ziele das aktuelle Handeln fokussieren, das Handeln im Augenblick. Sonst sind sie wirkungslos.
Zweitens können Ziele, über den Augenblick hinaus (im Sinne von Richtung) nur als ein ‚Zielen‘ gedacht werden.
Drittens haben Ziele nur Geltung, wenn sie in einem sozialen Interessenkontext einen Konsens ‚er-zielen‘, der Kooperation ermöglicht.
Viertens ist der Plan dann zunächst nichts anderes als eine (subjektive) Ordnung im Kopf. Diese gestattet mir, in welcher (überraschenden) Situation auch immer, planvoll zu handeln. Dafür braucht der Führende ein theoretisch begründetes, mentales Modell von Führung.
Fünftens ist der Plan, dem folgend, ein Koordinationsinstrument, das aus der Vogelperspektive, nicht Zukunftsperspektive gedacht ist.
Sechstens bestimmt der Plan keine abenteuerliche notwendige Schrittfolge, sondern den ersten möglichen Schritt, der wiederum einen vielfältigen Horizont von möglichen Anschlusshandlungen eröffnet.“ (19) Als eine mögliche Hilfskonstruktion für das Bild des Zielens käme auch die Leuchtturm-Metapher in Betracht, die die Bilder von Fata Morgana und von Vision generieren kann (vgl. List 2018: Didaktik: 68).
Design eröffne Spielräume, in denen klare Regeln herrschten. Improvisationstheater biete die Möglichkeit von Grenzerfahrung und Erfahrungen der Grenzüberschreitung, was immer auch Scheitern einschließe.
Gute Unternehmensführung sucht nicht lediglich nach rationalen Entscheidungsgründen, weil die Mehrzahl aller Entscheidungen sowieso eher unbewusst und situativ erfolgen. Bewusste Entscheidungen sind zumeist und überwiegend emotional begründet. Die ökonomische Theorie bemühe sich aber trotzdem darum, die Rationalität von Entscheidung – gegen alle Erfahrung – zu behaupten. Menschen und Manager legitimieren darum nachträglich ihre bereits getroffenen Entscheidungen, „indem sie Nutzwertanalysen oder Ähnliches verfertigen, in die die bereits getroffene Entscheidung ergebnisbegründend eingeht.“ (20) Folgerichtig käme – wie bereits Moreno sagte – das kreative Potenzial der Improvisation aus dem Unbewussten. Die Nähe von Führungsentscheidungen und Improvisation sei damit als evident zu betrachten.
Aus diesen Tatsachen schlussfolgernd, sei zu fordern, dass Entscheider über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe verfügen sollten. Diese Kompetenz basiere auf einer differenzierten Ausprägung der Unterscheidungsmuster von Entscheidern und auf ihrer Achtsamkeit. Weiterhin benötigten Entscheider ein Gespür für den richtigen Moment einer Entscheidung. Kein hektischer Aktionismus sei angesagt, sondern gelassene genaue Beobachtung in der Situation und warten auf den richtigen Moment. Und, daraus folge, dass es kein geeigneteres Training für die Entwicklung dieser Kompetenz gebe als das Improvisationstheater.
Weiterhin sehen die Autoren im Improvisationstheater Chancen, in Unternehmen, in Systemen in einer Weise zu intervenieren, dass diese Intervention als Irritation und Verstörung erlebt wird. Dass die Intervention das Denken und Handeln destabilisiert, ohne dabei die Systeme selbst zu destabilisieren. Es ginge darum, die alte „Ordnungen, Denk- und Verhaltensmuster zu beseitigen und für einen Übergangsprozess in eine neue Ordnung zu sorgen, zu moderieren und einen relativ reibungsarmen Umgang mit Kontingenz zu finden.“ (21)
Im Folgenden beschreiben die Autoren den Prozess der Intervention analog einer bestimmten Form des Coachings, wie ich sie über die Jahre im Laufe meiner zahlreichen Coachings von Führungskräften entwickelte: Die Blöde Maske. Der Führende kann den zu Führenden nicht steuern, er kann lediglich in diesem Prozess etwas beisteuern und ihn insofern mitsteuern. Der Coach regt seinen Coachee an zur selbstreflexiven Beobachtung seines Denkens und Handelns, das dann „Denk- und Handlungsräume, Möglichkeiten eröffnet.“ (21) Der Coach setzt einen Prozess in Gang, in dem es zunächst nicht um die Beantwortung konkret aufgeworfener Fragen geht, sondern Material generiert wird, aus dem anschließend folgende Fragen entwickelt werden. Dies kann letztlich bis zur Zirkularität führen, in der sich die Ansätze einer Geschichte abzeichnen. Für diese Geschichte gebe es „keinen Plan, lediglich einen Metaplan von Regeln, Formalien, Archetypen oder Hypothesen“. (22) Das Gespräch selbst habe dabei improvisatorischen Charakter.
Exkurs: Die Blöde Maske
Als Hilfsmittel für diese Coaching-Übung benutze ich eine Basler Maske mit einem besonders einfältigen Gesichtsausdruck und lasse diese Maske, sie in der Hand haltend, auf eine Aussage meines Coachees immer die gleiche Frage stellen: WARUM? Der Coachee ist nun aufgefordert immer eine spontane Antwort, eine Begründung, zu geben, erhält aber auch Zeit, seine eigene Antwort zu reflektieren. In diese Gedankenarbeit hinein, in der der Coachee auch introspektiv versucht einen Kontext zu entwickeln, fragt der Coach bzw. die Blöde Maske im richtigen Moment weiter nach mit: WARUM? Die Folge davon ist zumeist, dass der Coachee die fäden einer Geschichte findet und beginnt, diese miteinander zu einem Netz zu verknüpfen; in kontingenter Weise. Dabei ist er natürlich bemüht, Stimmigkeit herzustellen und Sinn und Bedeutung zu generieren, aus der im Idealfall sich schon verschiedene Handlungsoptionen ableiten lassen. Dann kann der Coach dem Coachee helfen, daraus Arbeitsaufgaben zu konstruieren.
Voraussetzung für diese Form des Coachens ist extrem genaues Beobachten, den richtigen Moment für eine Intervention zu finden, z.B. eine offen Frage zu stellen, um den Coachee dabei zu unterstützen seinen eigenen Gedankengang, seinen eigenen Werdegang und seine vermeintlichen Ziele zu reflektieren. Nur dies führt letztlich dazu, dass Menschen lernen, sich selbst zu steuern und ist Blaupause für jede Form von nachhaltigem Coachen, Lehren und Unterricht, die im Idealfall zur Selbstbestimmtheit und zur Souveränität und auctoritas von Menschen führt (vgl. List 2019 Didaktik: 36).
Basler Maske im Einsatz als alter ego mit Zirkularitätsfrage „Warum?“.
Im Kapitel „2.3 Regeln der Improvisation und Führungspraxis“ betonen die Autoren nochmals, dass auch das Improvisieren Regeln folgen muss und dass diese Regeln als Handwerk eine Grundvoraussetzung sind und durch Training erlernt werden müssen. Nur auf der Basis dieses Handwerks sei es möglich, Routinen für das Unvorhersehbare zu entwickeln und mit Unvorhergesehenem souverän und professionell umgehen zu können. „Ein Künstler muss sein „Handwerk“ beherrschen. Kunst bezeichnet im weitesten Sinne eine Tätigkeit, die auf Wissen, Beobachtung, Vorstellung und Intuition gegründet ist. Die Ergebnisse von Kunst sind jedoch nicht eindeutig durch Funktionen, vordefinierte Ergebnisse festgelegt. Kunst ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses.
Die wohl wichtigste Arbeit des Führenden ist die Arbeit am gemeinsamen Sinn. Ist das erreicht, baut er auf die Selbstorganisation, die er anregt, indem er den Selbstorganisationsprozesses mit Ideen, Gedanken und Erfahrungen ‚füttert‘ und präferierte Richtungen verstärkt – Angebote machen, starke Behauptungen aufstellen. Er mischt sich nicht ein, sondern lässt dem System (z. B. den Mitarbeitern) Zeit und wartet auf günstige Gelegenheiten für wirksame Interventionen.“ (28)
Im Folgenden erläutern die Autoren die Grundregeln des Improtheaters, wie sie durch die einschlägige Fachliteratur hinlänglich bekannt sind (vgl. z.B. List, Volker 2012: Das Kursbuch Impro-Theater).
Im Kapitel „3 Unternehmenstheater als Improvisationstheater“ stellen die Autoren die Frage nach einem „neuen Unternehmenstheater“. Sie beschreiben zunächst die drei Felder, in denen „Improvisationstheater nutzbar gemacht werden kann:
- Improvisationstraining zur Qualifikation (mindestens) der Führungskräfte, um deren Improvisationsfähigkeiten zu entwickeln, ihren Spaß am Improvisieren und damit an Führung.
- Alle unternehmerischen Tätigkeiten mit experimentellem Charakter (z. B. Projekte) können mit Improvisationstheater zu einer neuen Form von Tätigkeit integriert werden.
- Wenn es um Konstruktionen von Wirklichkeiten geht (Reorganisation, Problemlösung, Konfliktlösung, Strategien …) lassen sich diese als Improvisation umsetzen.“ (33-34)
Theater habe damit den gleichen Status wie Beratung ohne die klassischen Methoden der Unternehmensberatungen zu ersetzen. Theater unterstütze demnach mit seinen Mitteln das Unternehmen bei der Konstruktion und Rekonstruktion neuer Wirklichkeiten. Leider kämen die meisten Unternehmenstheater über den Event-Charakter nicht hinaus. Und dies habe erwiesenermaßen keine nachhaltige Wirkung, sei nur kurzweilige Unterhaltung und Auflockerung. Ein Event ist in der Lage:
- Denkprozesse bei Mitarbeitern und Führungskräften in Gang zu bringen, neue Sichten zu öffnen und neue Fragen aufzuwerfen.
- überzeugend das Gefühl zu vermitteln, dass der Auftragnehmer die Problemlagen des Auftraggebers versteht.
- Den Wunsch, ja die Lust zu erzeugen, diese Probleme im Rahmen des Unternehmenstheaters anzugehen.“ (35)
Die Autoren empfehlen zur Erreichung einer Nachhaltigkeit die Arbeit in kleinen Gruppen mit einem Regisseur. In diesem Rahmen ließen sich komplexe Fälle aus der realen Arbeitswelt abbilden und spielerisch ausprobieren. Diese Anregung erscheint weitgehend umgesetzt im Konzept congress in motion©[1].
Anmerkungen
[1] List, Volker u.a. 2002: congress in motion© – ein neues Großgruppendesign setzt nachhaltige Impulse zur Veränderung in einem Banken-Fusionsprozess. In: Wirtschaftspsychologie. Heft 3/02. Bonn
Weiterführendes
- Borries von, Friedrich 2016: Weltentwerfen. Berlin: Suhrkamp > Rezension
- List, Volker 2019: Die Kunst Theater zu lehren. Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel: Hüttenberg: Angewandte Theaterforschung
- List, Volker u.a. 2013: Interaktive Großgruppen. Lebendig lernen – Veränderung gestalten. Heidelberg: Springer Medizin Verlag
- List, Volker 2012: Das Kursbuch Impro-Theater. Leipzig: Klett
- List, Volker u.a. 2008: Großgruppenverfahren. Lebendig lernen – Veränderung gestalten. Heidelberg: Springer Medizin Verlag
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Hoppe, Hans Joachim: Jünger, Jürgen: Esche, Tilo 2017- Wie Unternehmen von Theater profitieren können – Rezension
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