Theater-Forschung untersucht das Phänomen Theater auf seine Relevanz für kulturelle Bildung und schulische Bildungsangebote
Der Schwerpunkt liegt dabei auf der kritischen Reflexion der Erfahrungen, die durch die Praxis des Theater-Machens und des Theater-Unterrichtens erworben werden und im ständigen Prozess der Begriffsbildung und der Konstruktion von Hypothesen und Theoremen sich nach und nach zu einer zunehmend differenzierteren Theorie des Darstellenden Spiels bzw. von Theater-Unterricht herausbilden, die in deduktiver Weise nun als Didaktik des Darstellenden Spiels bzw. Theater-Unterrichts wieder auf die Praxis zurückwirkt und dort neue Verfahren, Methoden und Impulse in Gang setzt.
Diese Theater-Forschung führt zu einer ständigen Überprüfung von Praxis durch theoretische Reflexion und umgekehrt und hat zum Ziel eine begrifflich klare und umfassende Beschreibung zu erarbeiten, wie Theater am wirkungsvollsten als kulturelle Bildung wirken kann. Dieser Lern- und Erkenntnisprozess findet seine analoge Abbildung in der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen im Theater-Unterricht bzw. im Unterrichtsfach Darstellendes Spiel: Theater ist „ein Prozess des Tuns, Sehens, Auswertens, Kritisierens und erneuten Tuns.“ (Schechner 1990: 38)
Unterricht wird hier nicht verstanden als das Abfüllen von Schüler mit vermeintlich fertigem – zu meist für das Leben der Schüler irrelevanten und dysfunktionalem – Wissen als sogenannte Wissens-Vermittlung, sondern als kluge und lustvolle Lernprozess-Initiierung und Lern-Begleitung durch Verfahren des Coachings und Supervisierens mit dem Ziel, Schüler bei ihrer Entwicklung zur Selbst- und Eigenständigkeit zu unterstützen, sodass sie in der nachschulischen Zeit, im gesellschaftlichen Feld in möglichst allen Teilbereichen des beruflichen, öffentlichen und privaten Lebens als selbstbewusste, kritische und gestaltende Menschen eine konstruktive und friedliche Kultur prägen können.
Primäres Ziel einer Theorie theatraler Bildung ist die Absicherung und reflektierende dauerhafte Begleitung einer theatralen Praxis, die als handlungsorientierten Output entsprechende praxisrelevante Hilfen und Unterrichtsmaterial für Theaterlehrkräfte und ihre Schüler generiert. Dieses Material kann einfließen in qualifizierende Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung.
Entsprechend werden in der Theater-Forschung Theorien und Entwicklungen des Theaters aufgearbeitet und auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und künstlerische Relevanz hin überprüft. Wissenschaftliche Abhandlungen und empirische Studien zur Bedeutung und Wirkung von ästhetischer Bildung und Theater-Unterricht rücken dabei ebenfalls ins Blickfeld und werden in den Buchbesprechungen, Interviews und den Essays zu den verschiedensten Themen, z.B. Theater 4.0 untersucht.
Theater-Forschung geht davon aus, dass Theorie immer ihre Impulse aus wahrnehmbarer Realität erhält > kritische Theorie, Adorno (1969).
Die Theorie-Hypertrophie, die sich über Jahrzehnte im universitären Wissenschaftsbereich vielerorts herausgebildet hat, führt im schlimmsten Fall in die Bedeutungslosigkeit. Der Volksmund spricht hier von der Wissenschaft im Elfenbeinturm.
Theorie reflektiert Praxis, Theorie ist „geronnene“ Praxis. Die Zusammenhänge sind komplex. Es entstehen Interdependenzen und man darf sich nicht in der Frage nach Huhn und Ei verlieren.
Theater-Forschung bewegt sich in einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in Endlosschleifen zwischen Praxis und Theorie. Sie erhält ihre Impulse an der Reibungsfläche dazwischen. Aus diesem Grund ist auch das Experiment eine wesentliche Methode wissenschaftlichen Arbeitens.
Auf menschliche, gesellschaftliche Themen bezogen zeigen sich schnell die engen Grenzen von naturwissenschaftlichen Methoden. Die Komplexität des Phänomens Mensch erschwert die Normierung und damit einen Versuchsaufbau > Bildungsstandards. Andere Kategorien werden bedeutsamer: Wissen, Erfahrung, Kommunikation. Jede dieser Kategorien ist hochkomplex. Dennoch versucht Theater-Forschung Muster zu beschreiben, über die eine Verständigung und ein Einverständnis möglich ist; mit Randunschärfen natürlich.
Theater zeichnet sich in diesem Sinne als hervorragendes Phänomen mit präzisen Randunschärfen aus, will sagen: Es gibt Klarheit in der Setzung: Jemand spielt. Einer schaut zu. In der Form aber nicht. Damit sind die Pole benannt, zwischen denen sich Angewandte Theater-Forschung bewegt. Sie erhebt keinen Anspruch darauf, eine wissenschaftlich bewiesene Theorie von erfolgreicher Praxis anzubieten, sondern schlägt immer wieder neue Funken zwischen den Reibungsflächen von Theorie und Praxis, die als Impulse und Fragen den nicht endenden wissenschaftlichen Erkenntnisprozess vorantreiben.
Herr P und der Lehrer (frei nach Bertolt Brecht)
Herr P besuchte einen befreundeten Lehrer.
“Die Schüler lernen nicht mehr so gut wie früher.” beklagte sich der ältere Lehrer.
“Woran mag das liegen.” fragte Herr P.
“Ich weiß es auch nicht. Ich sage den Schülern vor jeder Klassenarbeit …”
– und der Lehrer machte eine kurze Pause –
“… sie sollen keine Fehler machen. Ich sage das sogar mehrmals.”
Herr P schaute nachdenklich.
Literatur
- Adorno, Theodor W. u.a. (1969): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt und Neuwied
- Brecht, Bertolt (1981): Mühsal der Besten. Geschichten vom Herrn Keuner. In: Werke in fünf Bänden. Band 4. Berlin und Weimar. S. 255
- Brecht, Bertolt (1981): Über die Wahrheit. Geschichten vom Herrn Keuner. In: Werke in fünf Bänden. Band 4. Berlin und Weimar. S. 285
- Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg) (2009): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise. Berlin
- Schechner, Richard (1990): Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek: Rowohlt
Bisher erschienene Beiträge
Theater in der Grundschule – Wie aus (fast) nichts Theater wird – Reportage
Angewandte Theaterforschung (AT) untersucht Möglichkeiten, mit Kindern in der Grundschule Theater zu spielen – ein praktischer Versuch und Recherche für eine Langzeitstudie zur Frage: Welches Konzept einer Didaktik des Theaters ist geeignet, allen Kindern in der Grundschule die Möglichkeit zu geben, im Unterricht die Kunstform Theater kennen zu lernen, theatrale Erfahrungen zu machen, zu reflektieren und kulturelle Kompetenzen zu erwerben?
Potenzialentfaltung im Theater-Unterricht
In der Literatur wird manchmal behauptet, man dürfe die Kinder nicht in die Schule schicken, dürfe sie nicht erziehen und soll die Kinder weitgehend in Ruhe lassen, das käme ihrer Potenzialentfaltung entgegen. Begründung: Alle Kinder seien hochbegabt. Das ist ein Irrtum.
Klausur, ästhetische Praxis und Tod – Eine Theater-Klausur und ihre Folgen
Die Klausur einer Schülerin im Theater-Unterricht/ Darstellendes Spiel inspiriert ihre Mutter, diese zum Ausgangspunkt für ihre Abschluss-Arbeit einer Weiterbildung der Palliative Care der Hospiz- und Palliativ Akademie zu machen.
Theater benoten? – Geht nicht!
Eine Ensemble-Leistung benoten heißt, einer Gruppe, die eine ästhetische Gesamtwirkung hergestellt hat, eine Rückmeldung für ihr Gemeinschaftswerk zu geben, das nicht ein Einzelner herstellen kann, sondern nur alle zusammen im Team. Diese Position ist nicht zu Ende gedacht. Sie bleibt dem Dogma verhaftet, es gäbe eine Kunst an sich. Es mag Dinge geben, die sich nur schwer, vielleicht auch manchmal gar nicht, versprachlichen lassen. Ästhetische Erlebnisse mit ihren symbolischen Unausdeutbarkeiten gehören vermutlich dazu.
Unternehmenstheater – Theatermethoden im Business
Theater in Unternehmen kann Strukturen kritisch befragen und offenlegen. Sofern die Unternehmensführung das interessiert. Da theaterpädagogische Arbeit in Wirtschaftsunternehmen immer mal wieder Thema unter Theaterpädagogen ist, habe ich ein Skript mit Material zusammengestellt. Darin fächere ich die Möglichkeiten auf, mit Theater in Unternehmen zu arbeiten. Grundlage für die Beschreibungen der Arbeits- und Vorgehensweisen sind einige hundert Projekte und Veranstaltungen, die ich seit den 1990er Jahren durchgeführt habe.
Figurentheater-Festival 2015
Das Festival zeigt die Vielfalt des zeitgenössischen Animationstheaters vom traditionellen Puppenspiel als Erzähl-Theater auf höchstem Niveau bis hin zur Integration der Entwicklungen von Theater 4.0 und experimentellen hybriden Formen weit über die Grenzen des klassischen Objekt-Theaters hinaus.
Theater 4.0 – Grenzenlose digitale Vielfalt
Die gigantische digitale Weltvernetzung und Industrie 4.0 hinterlassen ihre Spuren im Theater. Wie reagiert es darauf? Was greift es auf? Welche neuen Formen entstehen? Wohin geht die digitale Theater-Reise?
NO EDUCATION – Kinder als Juroren auf der Ruhrtriennale
Wenn dogmatische Postdramatiker mit Kindern arbeiten, zeigt sich, wie gut es wäre, wenn ein allzu enger Schlüsselloch-Blick durch das Portal des Tempels der Kunst sich weiten würde, um das gesamte Phänomen Kindheit, Lernen und Erwachsenwerden in den Blick zu bekommen und es gut wäre, wenn man sich von entsprechenden Experten beraten lassen würde als zu glauben auf dem Kunst-Stein der Weisen zu sitzen.
Theaterunterricht studieren in Gießen
Wie sieht es mit dem Ausbau der Ausbildungskapazitäten für Theater-Lehrkräfte in Deutschland aus? Warum geht es seit Jahren in Gießen nicht voran?
Entwicklungsprozess des ersten Baukastens theatraler Möglichkeiten
Ein Forschung- und Entwicklungsprozess ist kein gradliniger Prozess und erhält seine wesentlichen Anregungen aus der Praxis, die immer wieder in theoretischen Reflexionsschleifen zurück zur Praxis und zur Erprobung führen. Was sonst sollte die Aufgabe von Forschung sein?